Taktile Intelligenz: Wie das SuperBrain 1 die visuelle Wahrnehmung neu denkt
Einleitung: Wenn Sehen fühlbar wird
Die Vorstellung, räumliche Informationen nicht mit den Augen, sondern über die Stirn wahrzunehmen, klingt zunächst wie Science-Fiction. Doch genau das versucht das estnische Start-up 7Sense mit seinem neuen Produkt „SuperBrain 1“ möglich zu machen. Das KI-gesteuerte Wearable ist kein Forschungsexperiment mehr, sondern marktreif – und bereits in mehreren europäischen Ländern erhältlich. Für rund 9.000 Euro erhalten blinde Menschen ein Gerät, das visuelle Daten in Echtzeit in haptische Signale übersetzt. Der Anspruch: mehr Unabhängigkeit im Alltag, ohne langwierige Schulung oder komplizierte Interfaces. Doch wie viel Potenzial steckt wirklich in diesem Ansatz?
Technologische Funktionsweise: KI-gestützte Haptik statt Kamera und Lautsprecher
Das SuperBrain 1 verzichtet bewusst auf klassische Audio-Ausgaben oder eine Bildschirm-Interaktion. Stattdessen erfassen Kameras am Gerät die Umgebung, analysieren Bewegungen, Hindernisse und Personen – und wandeln diese Informationen in taktile Impulse um, die über die Stirn weitergegeben werden. Diese Form des sogenannten „telehaptischen Feedbacks“ beruht auf Künstlicher Intelligenz, die kontinuierlich zwischen Relevanz und Umgebungskontext unterscheidet. Die Echtzeitfähigkeit ist dabei zentral: Laut Hersteller sind keine Schulungen nötig, da die Signale intuitiv erfassbar sein sollen.
Mit einer Akkulaufzeit von drei Stunden und einer Ladezeit von nur 60 Minuten ist das Gerät zudem praxistauglich dimensioniert. Es ist leicht, tragbar und wird in einer kleinen Tasche geliefert – mobil einsetzbar, auch bei spontanen Wegen durch die Stadt oder in Innenräumen mit wechselnden Gegebenheiten.
Erfahrungen und Kritik: Zwischen Begeisterung und Überforderung
Die ersten Reaktionen blinder Nutzerinnen und Nutzer fallen gemischt aus. Einige berichten von einem spürbar verbesserten Raumgefühl und einer schnelleren Orientierung, besonders in belebten Umgebungen. Auch Unternehmen wie Nvidia und die Deutsche Telekom zeigen Interesse – ein Indiz für technisches Potenzial und mögliche Anwendungsszenarien über die private Nutzung hinaus.
Gleichzeitig gibt es Kritikpunkte: Der Preis ist hoch, besonders für ein Hilfsmittel, das aktuell noch ohne Zusatzfunktionen wie Navigation, Texterkennung oder Sprachausgabe auskommt. Auch die Interpretation der Stirnimpulse wird nicht von allen als intuitiv beschrieben – manche empfinden die Signale als fremd oder sogar unangenehm. Hier zeigt sich ein generelles Problem haptischer Interfaces: Sie bieten Potenzial, erfordern aber oft individuelle Anpassung und längere Gewöhnungsphasen.
Chancen und offene Fragen: Ergänzung oder Durchbruchstechnologie?
Die Idee, Sehen durch Haptik zu ersetzen, ist technologisch faszinierend – und ethisch unterstützenswert. Sie eröffnet neue Wege zur sensorischen Erweiterung, die bisher stark auf Audio fokussiert waren. In einer zunehmend komplexen Umgebung kann zusätzliche Wahrnehmung durch ein weiteres Sinnesinterface die Selbstständigkeit erhöhen.
Doch das SuperBrain 1 steht noch am Anfang. Eine der wichtigsten Fragen ist: Reicht reines taktiles Feedback aus, um komplexe Umgebungen sicher zu erfassen? Oder braucht es eine multimodale Kombination – zum Beispiel mit Sprache oder auditiven Signalen? Auch aus KI-Sicht ist spannend, wie das System Relevanzfilter setzt und welche Datenbasis zur Optimierung genutzt wird. Momentan wirkt das Gerät eher als ergänzendes Hilfsmittel denn als vollwertiger Ersatz für bestehende Assistenzsysteme.
Fazit: Mutiger Schritt mit Raum für Weiterentwicklung
SuperBrain 1 ist ein mutiger Vorstoß in ein bislang wenig erforschtes Feld. Es erweitert die Diskussion um Barrierefreiheit und Inklusion um eine neue Dimension: taktile Kognition. Technisch solide und mit interessanter KI-Integration versehen, bietet das System einen wertvollen Beitrag – allerdings mit Einschränkungen in Funktion, Preis und Alltagstauglichkeit. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Iterationen folgen, die auf das Nutzerfeedback eingehen, die Funktionen erweitern und die Kosten senken.