Chronotrains: Mit einem Blick sehen, wie weit die Bahn trägt
Mobilität aus einer neuen Perspektive
Wer eine Bahnreise plant, denkt meist klassisch: Start- und Zielbahnhof eingeben, Verbindung suchen, Abfahrts- und Ankunftszeiten prüfen. Das Projekt Chronotrains dreht diese Perspektive um. Statt die konkrete Route zu planen, beantwortet es eine ganz andere Frage: Wie weit komme ich in einer bestimmten Zeitspanne mit dem Zug? Auf einer interaktiven Isochronen-Karte lässt sich in Echtzeit visualisieren, welche Bahnhöfe in ein, drei, sechs oder bis zu zwölf Stunden erreichbar sind – abhängig vom gewählten Ausgangspunkt. Diese Herangehensweise eröffnet nicht nur neue Reiseideen, sondern zeigt zugleich Stärken und Schwächen des europäischen Schienennetzes.
Entstehung und Konzept
Entwickelt wurde Chronotrains nicht von einem großen Verkehrsunternehmen oder einem Tech-Konzern, sondern von Benjamin Tran Dinh und Sarah Mamy – in Eigenregie, ohne kommerzielle Hintergedanken und ohne App-Zwang. Das Ergebnis ist ein frei zugängliches Datenprodukt, das den Fokus konsequent auf Zugverbindungen legt und bewusst auf überflüssige Komplexität verzichtet. Die Karte integriert zahlreiche europäische Bahnhöfe und berechnet für jede eingestellte Zeitspanne die entsprechenden Isochronen. Ergänzt werden diese Daten um kurze Fußwege bis zu zehn Kilometern, die mit einer angenommenen Geschwindigkeit von neun Kilometern pro Stunde in die Reichweite einbezogen werden.
Technische Umsetzung
Die Grundlage bilden Daten aus der API der Deutschen Bahn, die um internationale Fahrplandaten erweitert wurden. Die Reisezeiten werden vorab berechnet, sodass die Isochronenkarte in Echtzeit reagieren kann, wenn Nutzerinnen und Nutzer den Startpunkt oder die maximale Reisezeit ändern. Technisch basiert Chronotrains auf einem Stack aus Next.jsfür die Frontend-Entwicklung, PostgreSQL für die Datenverarbeitung und mapbox für die visuelle Darstellung. Diese Architektur sorgt für eine performante Nutzererfahrung, auch wenn im Hintergrund große Datenmengen verarbeitet werden. Die Einfachheit der Benutzeroberfläche macht das Tool nicht nur für technikaffine Menschen interessant, sondern auch für alle, die schnell und intuitiv Reiseideen finden möchten.
Stärken und Grenzen des Tools
Chronotrains wird für seine intuitive Bedienbarkeit und seinen klaren Fokus gelobt. Nutzer können ohne lange Suche erfassen, welche Regionen in einer bestimmten Zeitspanne erreichbar sind – eine Funktion, die besonders für spontane Reiseplanung oder für die Suche nach klimafreundlichen Alternativen zum Flugzeug interessant ist. Kritikpunkte betreffen vor allem die Darstellung in Randbereichen: Zeitmodelle sind nicht immer transparent, Zeitzonenanpassungen fehlen bislang (etwa für Verbindungen nach Großbritannien) und in ländlichen Regionen können Lücken im Datenmaterial auftreten. Auch eine multimodale Anbindung – also die Kombination von Bahn mit Bus, Tram oder Fahrrad – fehlt derzeit.
Relevanz für Mobilität und Infrastrukturplanung
Der eigentliche Wert von Chronotrains liegt nicht nur im touristischen Nutzen, sondern auch in der Analyse von Mobilitätsstrukturen. Indem es sichtbar macht, welche Regionen in welcher Zeit erreichbar sind, liefert das Tool Hinweise auf gut angebundene Gebiete und auf solche, die verkehrlich abgehängt sind. Für Kommunen, Verkehrsplaner und politische Entscheidungsträger kann diese Sichtweise helfen, gezielt in den Ausbau des Schienennetzes zu investieren. Auch im Kontext von Klimazielen bietet Chronotrains wertvolle Einsichten: Je attraktiver und erreichbarer Bahnverbindungen sind, desto eher werden sie als Alternative zu klimaschädlicheren Verkehrsmitteln genutzt.
Fazit: Ein kleines Projekt mit großem Potenzial
Chronotrains zeigt, dass datengetriebene Anwendungen nicht immer komplex oder kommerziell sein müssen, um Wirkung zu entfalten. Mit einer klaren Idee, einem schlanken technischen Konzept und frei verfügbaren Daten wird hier ein Werkzeug geboten, das Reisen inspirieren, Mobilitätsdebatten anregen und sogar politische Diskussionen beeinflussen kann. Die Perspektive verschiebt sich vom „Wie komme ich dorthin?“ hin zu „Was liegt in meiner Reichweite?“ – eine Frage, die im Zeitalter nachhaltiger Mobilität immer wichtiger wird.